Youval yariv

 
 

1981 kam der israelische Künstler Youval Yariv, gut vierzigjährig, aus dem Kibbuz Dafna nach Deutschland.  Er träumte davon, in einem erneuerten Land voller Möglichkeiten weiter malen zu können.  Im Hintergrund stand, bewusst oder unbewusst, der brennende Drang, sich mit seiner Kunst – im Land, dem Land der Täter – zu stellen.  Dessen Schergen hatten 1941 in Litauen fast alle Familienmitglieder, darunter die drei Schwestern seines Vaters ermordet.  Diese Last trägt er lebenslang.  Erst in Deutschland begegnet ihm der Name Dinah Gottlieb.  Sie war eine begnadete Künstlerin, die in Auschwitz für den berüchtigten Dr. Mengele Zwillinge porträtieren musste, so überleben konnte und nach dem Krieg in Hollywood Trickfilme zeichnete.  In ihr fand Yariv eine Heldin, auf deren Schicksal er seine eigene jüdische Identität projizieren konnte.  Der Zyklus „Hommage à Dinah Gottlieb“, 1985-1994 entstanden, gehört mit seinen über 30 großformatigen Bildern zu den eindringlichsten Zeugnissen für den furchtbarsten Zivilisationsbruch im 20. Jahrhundert.


Seitdem kreist Yarivs Malerei um Judentum, Palästina, Wetterfahnen in „Zeitgeist — Gaszeit“, Botschaften von Humanität und Freiheit.  Im Zyklus „Orakel“ steigen aus Mikrophonen ohne Redner, wie Sprechblasen, Dämpfe auf, während die Welt zwischen Schlagbäumen in Trümmer fällt.

Die Wende kam 2016, als Köpfe neben die Mikrophone rückten: bekannte und erinnerungswürdige Köpfe aus der europäischen Geistesgeschichte.  Zweimal wird ein Mikrophon durch ein (rotes) Licht der Aufklärung ersetzt.  Ungefähr die Hälfte der Porträtierten sind Jüdinnen und Juden, andere zeichnen sich durch eine besondere Beziehung zum Judentum aus.  Der Einstieg erfolgt mit Heinrich Heine, dann Franz Kafka, dann die Exilanten Baruch de Spinoza, Hannah Arendt, Theodor Adorno, die konvertierte Nonne Edith Stein, die KZ-Überlebende Simone Veil, aber auch Nichtjuden wie René Descartes, Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schiller, Immanuel Kant, Frédéric Chopin, Giuseppe Verdi, Émile Zola, Dmitri Schostakowitsch, Bertha von Suttner erweitern die Porträtgalerie — durchweg VorkämpferInnen für das europäische Friedensprojekt, selbst in seiner nationalen Verwurzelung.  Die Auswahl ist von höchst subjektiver Bewunderung Yarivs geprägt.  Am Horizont der Philosophen, Dichter, Komponisten erscheinen Symbole für Leben und Werk.  Strichlisten aus Lagern vergattern immer wieder den Hintergrund, Schlagbäume versperren, Viadukte führen weiter.


Mit den Porträts schafft Yariv sich, in Düsseldorf lebend, eine eigene geistige Heimat, die Israel wie Europa umfasst.  Weiterhin überschattet die Shoah das Werk, doch die Porträts sind mit allen malerischen Mitteln, ebenso effekt- wie bedeutungsvollen Farben und symbolischen Landschaften der Zerstörung oder Zuversicht, im Dunkel oder mit Hoffnungsschimmern orchestriert.  Durch die dichte Malweise, Inszenierung und Vernetzung schließen sie sich, jenseits physiognomischer Unterschiede, über die Jahrzehnte hinweg zu einem Gruppenbild mit europäischer Familienähnlichkeit zusammen.


(Text aus dem Flyer für die Ausstellung »Je suis Européen«
– Mai 2019, Koblenz)


Prof. Dr. Manfred Schneckenburger

Geistige Heimat

Text aus dem Flyer für die Ausstellung »Je suis Européen«


Mai 2019, Koblenz


Prof. Dr. Manfred Schneckenburger